Dein Staatsanwalt der Postbote(?)

  • Report 04 April 2024 04 April 2024
  • UK & Europe

  • Regulatory risk

Die Beteiligung des Geschädigten an einem Strafverfahren gegen die einer Tat beschuldigten Personen wird in der öffentlichen Debatte nicht selten als Aspekt der auf Gerechtigkeit beruhenden Strafprozessordnung aufgefasst.

Diese grundsätzlich positive Betrachtungsweise wird in Großbritannien derzeit aber durch Machtmissbrauchsvorwürfe getrübt, weshalb die konkrete Ausgestaltung des dortigen Privatklageverfahrens teilweise grundlegend in Frage gestellt wird.

Auslöser dieser in nahezu allen Medien geführten Debatte ist der mittlerweile als wohl größter Justizskandal in der jüngeren britischen Geschichte bezeichnete Post-Office-Skandal, welcher in den letzten Wochen auch in der deutschen Presse große Aufmerksamkeit erregt hat.

Dabei wurden aufgrund fehlerhafter Berechnungen einer in den Postfilialen zur Verwaltung der Finanzen genutzten Software in den Jahren 1999 bis 2015 tausende selbstständige Betreiber von Post Office Filialen in Großbritannien fälschlicherweise beschuldigt, Diebstahl oder Betrug begangen zu haben. Obwohl Betroffene bereits früh über die Fehler der Buchhaltungssoftware berichtet hatten, wurden hunderte der sogenannten „Subpostmasters“ wegen Diebstahl oder Betrug angeklagt und verurteilt. Viele der Betroffenen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt und verloren ihre Existenzgrundlage, manche nahmen sich sogar das Leben. Erst nach jahrelangen Recherchen und folgenden Rechtsstreitigkeiten (siehe Bates & Ors v Post Office Limited [2019] EWHC 3408 (QB) wurden einige Verurteilungen aufgehoben und erste Entschädigung gewährt. Eine im Januar 2024 ausgestrahlte Fernsehproduktion[1] über eines der Opfer des Skandals (siehe „Mr. Bates vs. The Post Office“) löste zuletzt eine landesweite Forderung nach Gerechtigkeit und Entschädigung für die Betroffenen sowie Reformen des Justizwesens aus.


Wie konnte es dazu kommen?

In Großbritannien wird der Postdienst durch zwei Unternehmen organisiert: Die Royal Mail, welche den Postversand organisiert, und die separate Post Office Ltd. Die Post Office Ltd. ist im Vereinigten Königreich eine Institution mit jahrhundertelanger Geschichte. Dass gerade diese Institution den wirtschaftlichen und teils persönlichen Ruin hunderter unschuldiger Bürger der „nation of shopkeepers“ mitverursacht hat, dürfte das Ausmaß des Vertrauensverlusts nochmals verstärken. Aber es ist nicht nur das Ansehen der Institution Post, das im Fokus der aktuellen politischen Debatte steht. Der Skandal um die britische Post hat zudem zwei Grundfragen in Bezug auf die Funktionsweise des Justizsystems in Großbritannien aufgeworfen, die in der deutschen Berichterstattung über den Skandal oft nur am Rande Erwähnung finden:

1. die Möglichkeit und Ausgestaltung der Strafverfolgung durch Private und

2. die praktischen Defizite der Justiz bei Beweiserhebung und -würdigung im Einzelfall.

Beide Aspekte werden in diesem Beitrag näher beleuchtet. 


Chronologie eines Skandals

Einst eine öffentliche Einrichtung, wurde die Post Office Ltd. 1969 in ein privates Unternehmen umgewandelt, das seine Arbeit wiederum delegierte. Die meisten Postfilialen werden von Selbstständigen, so genannten „subpostmasters“ oder „subpostmistresses“ (im Folgenden als „Subpostmasters“ bezeichnet) betrieben. Diese unterhalten Verträge mit der Post Office Ltd. über die Verrichtung ihrer selbstständigen Tätigkeiten. Im Jahr 1999 begann die Post mit der landesweiten Einführung einer neuen Buchhaltungssoftware für alle ihre Filialen. Bis 2001 wurde die neue Buchhaltungssoftware von über 13.000 Filialen im ganzen Land übernommen.

Schon früh nach Einführung der Software meldeten mehrere Subpostmaster, darunter auch Alan Bates, der später zu einem der führenden Akteure in der Aufarbeitung des Skandals wurde, Probleme mit der Buchhaltungssoftware, zu denen auch Bilanzierungsfehler gehörten. Das Postamt ging jedoch nicht auf die erhobenen Beschwerden ein.

Letztere fanden allerdings kein Ende: zwischen 1999 und 2014 meldeten hunderte Subpostmasters unerklärliche Diskrepanzen in ihrer Buchhaltung, die auf Fehler in der Buchhaltungssoftware zurückzuführen seien. Das Postamt ignorierte die Berichte, machte stattdessen die Subpostmasters für die Unstimmigkeiten in der Buchhaltung vertraglich verantwortlich und verlangte von ihnen, die Fehlbeträge persönlich auszugleichen. Die Post begann zudem, strafrechtliche Privatklagen gegen die Subpostmasters wegen Betrugs und Diebstahls zu erheben. Bis 2015 wurden über 700 Subpostmasters nach internen Untersuchungen der Post und 283 nach externen Untersuchungen verurteilt.

Im Jahr 2017 reichte eine Gruppe von 555 ehemaligen Subpostmasters eine Sammelklage gegen die Post Office Ltd.  ein, in der sie der Post Office Ltd. eine böswillige Verfolgung vorwarfen und Schadenersatz forderten. Im Jahr 2019 wurde eine außergerichtliche Einigung erzielt, bei der Post Office Ltd. den Klägern eine Entschädigung in Höhe von 58 Millionen Pfund zahlte (siehe Bates v Post Office Ltd (No.3: Common Issues) [2019] EWHC 606 (QB).

Erst dieses Gerichtsverfahren ebnete den Weg für zuvor strafrechtlich verfolgte Postamtsleiter, ihre Verurteilungen ebenfalls vor Gericht anzufechten. Auch führte es dazu, dass der damalige Premierminister Boris Johnson im Februar 2020 ankündigte, die Regierung werde eine unabhängige Untersuchung des Skandals einleiten. Diese wurde noch im selben Jahr initiiert und im Juni 2021 in eine öffentliche Untersuchung umgewandelt.

Strafgerichte begannen im Dezember 2020 mit der Aufhebung von Verurteilungen, wobei bis Februar 2024 allerdings erst 100 solcher Aufhebungen erreicht werden konnten. Auch aus diesem Grund wird aktuell sogar eine Aufhebung der strafrechtlichen Verurteilungen durch Gesetzesänderung angedacht. Zuletzt wurde darüber berichtet, dass die Post Office Ltd. der Aufhebung etlicher Verurteilungen widersprechen wolle.[2]

Im Januar 2024 kündigte die britische Regierung Pläne für eine pauschale Entschädigungszahlung an, deren Höhe von Betroffenen jedoch scharf kritisiert wird.[3]

Der Skandal ist also noch lange nicht bewältigt.

Im Fokus stehen nunmehr auch die Befugnisse der Post Office Ltd. in den Strafverfahren gegen die von dem Skandal Betroffenen. Immerhin waren über 700 der Strafverfahren von der Post selbst geführt worden.


Das Rechtssystem als Wegbereiter des Skandals? - Eine Diskussion über die Befugnisse Privater in Strafverfahren

Die Sonderstellung der Post Office Ltd. in der Mehrheit der Strafverfahren gegen ihre eigenen Vertragspartner wird mittlerweile als einer der Hauptauslöser des Skandals gesehen. Die Post Office Ltd. hatte diese Strafverfahren auf dem Wege der nach britischem Recht vorgesehenen Privatklage verfolgt und im Ergebnis in einer Vielzahl der Fälle ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft eine Verurteilung herbeigeführt. Stattdessen befand sich die Post Office Ltd. in der ungewöhnlichen Lage, gleichzeitig Opfer der softwarebedingten Probleme, Ermittler und Ankläger der eigenen Vertragspartner, und verantwortlich für die Bereitstellung der Sachverständigen im Gerichtsverfahren zu sein.

Eine absurde Vorstellung? Keineswegs. Die Beteiligung privater Akteure an der Durchführung von Strafverfahren ist in vielen Jurisdiktionen vorgesehen. Auch das deutsche Strafprozessrecht gesteht Betroffenen in manchen Konstellationen eine besondere Rolle zu.


Zu den Rechten von Privatpersonen im deutschen Strafprozessrecht

Zwar ist die Strafverfolgung auch in Deutschland im Grundsatz allein Angelegenheit der Staatsanwaltschaft (Offizialmaxime), die nach dem Legalitätsprinzip jede verfolgbare Straftat ermitteln und bei hinreichendem Tatverdacht (Akkusationsprinzip) Anklage erheben muss. Dies schließt jedoch die Beteiligung Privater nicht aus.

Den größten Einfluss auf den Verlauf des Strafverfahrens haben Privatpersonen im Rahmen des Privatklageverfahrens nach §§ 374 ff StPO. Dadurch soll dem durch eine Straftat Geschädigten die Möglichkeit geboten werden, Genugtuung für das erlittene Unrecht zu erlangen, auch wenn die Allgemeinheit durch die Straftat so wenig betroffen ist, dass kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Die Straftaten, die im Wege der Privatklage verfolgt werden können, sind in § 374 I StPO abschließend aufgezählt. Erfasst sind überwiegend „leichtere“ Delikte wie Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder Beleidigung, aber auch Bestechung im geschäftlichen Verkehr und bestimmte Straftaten nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb.

Der Verfahrensablauf selbst entspricht im Grundsatz dem "normalen" Strafverfahren; vorbehaltlich abweichender Regelungen in den §§ 374 ff StPO gelten die allgemeinen Vorschriften. Der Privatkläger nimmt im Wesentlichen die Stellung der Staatsanwaltschaft ein, vgl. § 385 I StPO. Er ist jedoch nicht an das Legalitätsprinzip gebunden und muss daher die Straftat nicht verfolgen, sondern kann nach der Anklageerhebung darauf verzichten oder von der weiteren Verfolgung absehen. Der Privatkläger ist als Verfahrensbeteiligter auch nicht zur Objektivität gezwungen und muss seine Aussagen zwar wahrheitsgemäß wiedergeben, ist aber nicht zur Ermittlung von den Beschuldigten entlastenden Umständen verpflichtet.[4] Er hat keine Ermittlungsbefugnis im Sinne des § 160 I StPO, ist aber im Gegenzug auch nicht zu Ermittlungen verpflichtet.[5] Dies obliegt im Privatanklageverfahren grundsätzlich dem Gericht; es gilt wie in jedem Strafverfahren der Untersuchungsgrundsatz nach § 244 II StPO. Das Gericht hat den Sachverhalt also von Amts wegen aufzuklären, vgl. § 384 III StPO. Die Anordnung der Untersuchungshaft ist im Privatklageverfahren dabei unzulässig.[6] Auch dürfen keine Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden, § 384 I 2 StPO, § 61 ff. StGB.

Auch die anderen im deutschen Strafprozessrecht verankerten Beteiligungsrechte der von einer Straftat Betroffenen in den §§ 172 – 177 StPO (Nebenklage) und §§ 395 – 402 StPO (Klageerzwingungsverfahren) sind rechtlich wie tatsächlich begrenzt. Die Stellung und Befugnisse der Staatsanwaltschaft werden durch sie nicht grundlegend berührt.

Zu der rechtlichen Begrenzung der Befugnisse Privater im deutschen Strafprozessrecht kommen Hürden in der Praxis, beispielsweise im Hinblick auf Beweisschwierigkeiten des Privatklägers, welchen ein hohes Prozess- und Kostenrisiko gegenübersteht.[7] Nicht zuletzt führen diese hohen Anforderungen dazu, dass die Privatklage in Deutschland kaum praktische Bedeutung hat. So haben die Staatsanwaltschaften im Jahr 2020 210.289 Verfahren auf den Privatklageweg verwiesen; im selben Jahr wurden nur 442 von insgesamt 614.781 bei den Amtsgerichten erledigten Verfahren durch eine Privatklage eingeleitet.[8]


Zur Stellung der Post Office Ltd. in Großbritannien

Von fehlender Relevanz der Privatklage kann in Großbritannien angesichts des Post-Office-Skandals sicher nicht gesprochen werden. Dabei wäre die rechtliche Ausgangslage auf den ersten Blick mit der Situation in Deutschland vergleichbar.

Im Vereinigten Königreich sind die Befugnisse von Privatpersonen, eine Privatklage zu erheben, sowohl in Abschnitt 6(1) des Prosecution of Offences Act 1985 als auch im Common Law geregelt. In Abschnitt 6(1) heißt es:

“Subject to subsection (2) below, nothing in this Part shall preclude any person from instituting any criminal proceedings or conducting any criminal proceedings to which the Director [of Public Prosecutions]’s duty to take over the conduct of proceedings does not apply.”

In Übersetzung:

Vorbehaltlich des nachstehenden Unterabschnitts (2) hindert nichts in diesem Teil eine Person daran, ein Strafverfahren einzuleiten oder ein Strafverfahren zu führen, für das die Pflicht des Direktors [der Staatsanwaltschaft], das Verfahren zu führen, nicht gilt.

Dementsprechend kann jede natürliche oder juristische Person wegen jeder Straftat eine private Strafverfolgung einleiten, es sei denn, die Straftat ist gemäß Section 3 (2) des Prosecution of Offences Act 1985 dem Director of Public Prosecutions (DPP) oder einer anderen Behörde vorbehalten. Auch die Strafverfolgung der Subpostmasters durch die Post Office Ltd. erfolgte auf diesem Weg, der im Prinzip jedem offensteht.

Führte letztlich also das auch in Deutschland zur Verfügung stehende Institut der Privatklage zu dem Skandal, der die Existenz vieler Betroffener zerstörte?

Jedenfalls nicht ausschließlich.

Das nunmehr an die Öffentlichkeit gelangte Ergebnis der rigorosen Nutzung rechtlicher Befugnisse durch die Post Office Ltd. wäre nicht möglich gewesen, hätte das Unternehmen nicht auf eine besondere Machtposition zurückgreifen können. So ist die Klassifikation der Post Office Ltd. als Privatperson im Sinne Prosecution of Offences Act 1985 zwar zutreffend, gleichwohl aber zu kurz gegriffen. Im Verlauf des Postamtskandals kam dem Unternehmen aufgrund seiner Geschichte und Organisation eine besondere Rolle zu, die mit dem Handeln „gewöhnlicher“ Privater nur schwer vergleichbar ist.

Die Geschichte der Post Office Ltd. als besonderer Strafverfolgungsbehörde geht auf das Jahr 1683 zurück.[9] Zu dieser Zeit gab es weder Polizei noch Staatsanwaltschaft, die als staatliche organisierte und überwachte Behörde Straftaten verfolgen konnte. Stattdessen waren es die Postbeamten selbst, die für die Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit der Post zuständig waren und diese betrieben.[10] Die Postbeamten können also als die ersten Ermittler im heutigen Sinne angesehen werden. Im Kontext dieser Tätigkeit verfügte die Post Office Ltd., beziehungsweise ihre Rechtsvorgänger, über eine eigene Abteilung für die Verfolgung von Straftaten, die Post Office Investigation Branch. Im Verlauf ihrer Geschichte entwickelte sich diese Abteilung zu einer spezialisierten Einheit mit besonderem Fachwissen und engen Verbindungen zu staatlichen Institutionen und blieb trotz Aufspaltung des Postsystems in Royal Mail und Post Office Ltd. als Strafverfolgungszweig der letzteren erhalten.

Zwar hat die Post Office Investigation Branch keine besonderen rechtlichen Ermittlungsbefugnisse, aufgrund ihrer Verbindungen zu Polizeibehörden und Staatsanwaltschaft kamen ihr in Vergangenheit jedoch faktische Handlungsmöglichkeiten zu, die grundsätzlich staatlichen Institutionen vorbehalten sein sollten. Beispielsweise führte sie regelmäßig gemeinsame Ermittlungen mit der Polizei und anderen Ermittlungsbehörden durch und hatte für Ermittlungs- und Strafverfolgungszwecke sogar Zugang zum nationalen Polizeicomputersystem. Finanzermittler der Post Office Ltd. wurden auch von der National Crime Agency mit der Durchführung von Finanzermittlungen im Rahmen von Vollstreckungs- und Beschlagnahmeverfahren beauftragt. Von 2000 bis 2001 gehörte die Post Office Ltd. zu den zuständigen Behörden gemäß SS. 28 und 29 des Regulation of Investigatory Powers Act 2000 (ein Gesetz, mit dem die Befugnisse öffentlicher Stellen zur Durchführung von Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen als Reaktion auf den damaligen technologischen Fortschritt geregelt wurden) und durfte damit Genehmigungen für die Durchführung von Überwachungsmaßnahmen und verdeckte Ermittlungen erteilen.

Im Vergleich zu anderen Privatpersonen verfügte die Post Office Ltd. somit über deutlich mehr Mittel zur Verfolgung und Durchsetzung ihrer (vermeintlichen) Rechte im Wege der Privatklage. Diese setzte sie auch im Falle der Klagen gegen die Subpostmasters ein – mit einem, wie mittlerweile ersichtlich, enormen Strafverfolgungseifer[11]. Zu der historisch gewachsenen und institutionalisierten Machtstellung der Post Office Ltd. kam ihre (vermeintliche) Stellung als in der Öffentlichkeit stehendes Opfer der (vermeintlichen) Straftaten. Nachdem es die Post Office Ltd. über Jahre hinweg unterlassen hatte, Hinweisen auf die Fehlerhaftigkeit der eingesetzten Software nachzugehen, und sie stattdessen ihre Betroffenheit als (vermeintlich) Geschädigte betont hatte, war die Post Office Ltd. im weiteren Verlauf des Skandals einem Interessenkonflikt ausgesetzt, der es erschwerte, die Strafverfolgung objektiv zu betreiben. Erschwerend kam hinzu, dass die Post Office Ltd. bei der Durchführung privater Strafverfolgungsmaßnahmen nicht der staatlichen Aufsicht unterlag, wie sie für öffentliche Strafverfolgungsmaßnahmen vorgesehen ist. Dadurch befanden sich die Subpostmasters in jeder Hinsicht im Nachteil. Letztlich wurde im Verlauf der von der Post Office Ltd. durchgeführten Ermittlungen der Untersuchungsgrundsatz vernachlässigt, der gemäß der Verfahrensordnung des Criminal Procedure and Investigations Act 1996 auch für Privatkläger gilt.
 

Die Rolle des Richters

Blickt man aus deutscher Sicht auf die Frage, wie ein solcher Skandal ermöglicht wurde, muss man sich zudem die Unterschiede zwischen der Rolle von Richtern im englischen Strafverfahren zu den Richtern hierzulande vergegenwärtigen.

Insbesondere gilt im Vereinigten Königreich der Amtsermittlungsgrundsatz, d.h. die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt aktiv zu erforschen, nicht im gleichen Umfang wie im deutschen Strafprozessrecht. Stattdessen ist das Gericht grundsätzlich an das Vorbringen der Parteien im Prozess gebunden. Polizei und Staatsanwaltschaft sind zwar verpflichtet, im Rahmen ihrer Offenlegungspflicht umfassende Ermittlungen durchzuführen, wobei sämtliche relevanten Materialien der Verteidigung zur Verfügung gestellt werden müssen. Verletzen Polizei oder Staatsanwaltschaft diese Pflichten, ist zu weiteren Maßnahmen des Gerichts die Mitwirkung der Angeklagten erforderlich. Diese können jederzeit die Offenlegung der Beweismittel oder den Nachweis der ordnungsgemäßen Erlangung der Beweismittel verlangen. In diesen Fällen wird das Gericht üblicherweise (außer im Falle offensichtlicher Aussichtslosigkeit) einen entsprechenden Antrag unterstützen und in dem Fall, dass der Ankläger dem nicht nachkommt, den Prozess wegen Prozessmissbrauchs beenden.

Nichtsdestotrotz kann die britische Justiz aber nur auf Grundlage der ihr vorgelegten Informationen handeln und von sich aus keine weiteren Ermittlungen verlangen oder weitere Offenlegungen erzwingen, auch wenn sie die Auffassung vertritt, dass die ihr vorgelegten Beweise und Unterlagen nicht stichhaltig sind. Diese Einschränkung entspricht den Grundprinzipien des relevanten Strafprozessrechts, nämlich Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Integrität und Korrektheit. Richter sollten auf der Grundlage des ihnen vorgelegten Materials unparteiisch entscheiden. Das Anfordern weiterer Informationen oder das Anstellen eigener Ermittlungen ist hierbei nicht vorgesehen. Zu diesen systemisch bedingten Unterschieden kam Prozessbeobachtern zufolge jedoch noch das Verhalten der Richter in den konkreten Verfahren. Es erschien fraglich, ob die Richter ihre im Vergleich zu Deutschland zwar beschränkten, nichtsdestotrotz aber vorhandenen Möglichkeiten zur Wahrheitserforschung im gebotenen Umfang nutzten.

So wurden zu möglichen technischen Problemen der Buchhaltungssoftware Sachverständige gehört – dies dürfte angesichts spezifischer technischer Fragestellungen üblich und auch sachgerecht sein. Auch die Tatsache, dass sich die (oft älteren und in der Bedienung von Software teils unerfahrenen) Richter hinsichtlich der Einschätzung dieser Software stark auf die Aussagen der Sachverständigen stützten, erscheint nachvollziehbar. Allerdings wurden bezüglich der Auswahl der Sachverständigen Fragen aufgeworfen: so wurde beispielsweise ein Mitarbeiter des Softwareentwicklers durch die Post Office Ltd. als Sachverständiger zur Bewertung ebendieser Software herangezogen[12]; dessen Aussagen hätten wohl sehr viel kritischer bewertet werden müssen, als dies letztlich geschah.

Darüber hinaus stellten sich aufmerksame Beobachter der Verfahren die Frage, weshalb die Justiz die sich in der Gesamtschau offenbarenden Muster dieser Prozesse nicht zum Anlass nahm, die Umstände dieser Prozesse näher zu beleuchten: angesichts von hunderten Verurteilungen der Subpostmaster wegen Diebstahl oder Betrug hätte es nahegelegen, zu hinterfragen, weshalb derart viele Subpostmaster, die teils langjährige Betreiber der Postfilialen waren, plötzlich kriminelle Handlungen begehen sollten.

Auch der Umstand, dass anscheinend von einer Unfehlbarkeit der Berechnungssoftware ausgegangen war, obwohl die Existenz von Softwarefehlern und die Notwendigkeit ständiger Updates allgemein bekannt sein sollte[13], warf Fragen auf. Die befassten Richter sahen sich nachträglich nicht selten der Kritik ausgesetzt, nicht einmal die Grundlagen von Soft- und Hardware verstanden zu haben.

Diese passive Haltung der Gerichte, welche die von der Post Office Ltd. vorgelegten Nachweise anscheinend ohne größere kritische Prüfungen hingenommen haben, hat letztlich wohl hunderte ungerechtfertigte Verurteilungen ermöglicht. Damit wirft der Skandal die Frage auf, ob eine Reform der Befugnisse und Pflichten der Gerichte erforderlich ist. In der aktuellen Diskussion wurde dies allerdings zuletzt scharf zurückgewiesen. Die Oberste Richterin von England und Wales bekundete beispielsweise öffentlich, dass keinerlei Grundlage für eine Verwicklung der Justiz in ungerechtfertigte Verurteilungen bestehe, da die Entscheidung über eine Verurteilung nicht im Ermessen des Richters liege: entweder bekenne sich der Angeklagte schuldig (worauf ein Richter keinen Einfluss nehmen kann) oder er wird von einer Geschworenenjury verurteilt.[14] Die Richter könnten aus ihrer Sicht daher für den Skandal nicht verantwortlich gemacht werden. Die Stellungnahme verwundert nicht, ist aber letztlich sehr kurz gegriffen. Beispielsweise ist es durchaus so, dass Richter den Geschworenen durch Fragen und Aufgabenstellungen indirekt Mitteilungen geben können, die in der Praxis durchaus Einfluss auf die Bewertung eines Sachverhalts haben können.


Befugnisse Privater im Strafverfahren - ein grundlegender Fehler im System?

Der Skandal um die britische Post Office Ltd. sollte nicht grundsätzlich die Berechtigung oder Notwendigkeit von Privatklagen in Frage stellen. Derartige Klagen können ein wirksames Instrument für Einzelpersonen sein, um Gerechtigkeit zu erlangen – insbesondere angesichts einer stark beanspruchten Staatsanwaltschaft, deren Kapazitäten ohnehin ausgereizt sind. Die Befugnisse großer kommerzieller Unternehmen wie der Post Office Ltd., die als private Kläger auftreten, letztlich aber eine den Staatsorganen ähnliche faktische Machtstellung besitzen, geben jedoch Anlass zur Sorge. Ebenso besorgniserregend ist die passive Haltung der Gerichte und Richter in britischen Privatklageverfahren, die scheinbar ohne angemessene Ermittlungen, Offenlegung und/oder Beweise eingeleitet werden und zur Verurteilung Hunderter unschuldiger Personen führen konnten.

Beide Aspekte dürften bei der Strafverfolgung durch Private in Deutschland keine signifikante Rolle spielen. Aus den oben genannten Gründen erscheint ein vergleichbarer Skandal in Deutschland nur schwer vorstellbar. Im Vereinigten Königreich dagegen ist mit jedenfalls mittelfristigem Druck der Öffentlichkeit zu rechnen, die Reformen des dortigen Privatklageverfahrens fordert. In welchem Umfang Legislative und Justiz diesem Druck jedoch nachkommen werden, bleibt freilich abzuwarten.  

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[1] https://www.itv.com/watch/mr-bates-vs-the-post-office/10a0469/10a0469a0001 (zuletzt aufgerufen am 21. Februar 2024).

[2] Siehe https://www.ft.com/content/14053ab4-b357-4d58-86b6-845f6d6158b0 (zuletzt aufgerufen am 20. Februar 2024).

[3] Siehe https://www.theguardian.com/uk-news/2024/jan/31/post-office-horizon-scandal-alan-bates-rejects-cruel-compensation-offer (zuletzt aufgerufen am 20. Februar 2024).

[4] BeckOK StPO/Valerius StPO § 385 Rn. 2.

[5] KK-StPO/Allgayer StPO § 385 Rn. 1.

[6] KK-StPO/Graf StPO § 112 Rn. 60.

[7] MüKoStPO/Daimagüler vor § 374 Rn. 4.

[8] BeckOK StPO/Valerius StPO § 374 Rn. 1.1.

[9] https://www.postalmuseum.org/blog/postal-crimes-of-the-past/ (zuletzt aufgerufen am 21. Februar 2024).

[10] https://www.postalmuseum.org/blog/postal-crimes-of-the-past/ (zuletzt aufgerufen am 21. Februar 2024).

End

Additional authors:

Jasmine Zamprogno (Research Assistant, Munich); Christoph Stöger (Trainee Lawyer, Munich)

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